Freitag, 1. März 2024

Meiner Omi zum 120. Geburtstag

Heute, am 1. März 2024, jährt sich zum einhundertundzwanzigsten Mal der Geburtstag meiner Großmutter. der Mutter meiner Mutter. Meine Omi war in meinen ersten fünf Lebensjahren meine wichtigste Bezugsperson. Sie wohnte bei uns und kümmerte sich um mich. Sie ging mit mir spazieren (wobei ich zunächst im Wägelchen lag oder saß) und sie war es auch, die mir vorlas und mir Kinderlieder beibrachte. Und andere Lieder. Denn neben „Alle meine Entchen“, „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ usw. begegnete ich durch sie auch Kunstliedern wie „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“, „Brüderlein fein“, „Am Brunnen vor dem Tore“ usw. Und auch Schlagern. Ganz besonders ist mir „Mein Schatz ist ein Matrose“ in schönster Erinnerung.
Ich war fünf, als Omi starb. Schlaganfall mit 67. Beugte sich am Tisch sitzend hinunter, um eine zu Boden gefallene Patience-Karte aufzuheben ― und zack! Ich war dabei. Seither (53 Jahre) kann ich mich zu nichts Hinuntergefallenem beugen, ohne an meine Großmutter und ihren plötzlichen Schlaganfall zu denken …
Weil ich so klein war, als meine Omi starb, sind fast alle Anekdoten, die ich mit ihr verbinde, Erzählungen anderer. Etwa, dass ich beim gemeinsamen Spaziergang, auch schon aus dem Kinderwagen heraus, meine kleinen Hände gern durch Zäune steckte, weil ich unbedingt ein dahinter befindliches „Hundi“ streichen wollte, was bei meiner Großmutter selbstverständlich Entsetzen auslöste, weil sie wusste, dass nicht jeder Hund so lieb war, wie ich ihn hatte. Es ist nie etwas passiert. Und ein Hundefreund bin ich geblieben.
Bezeichnend für mich ist auch die Geschichte, dass meine Omi beim Vorlesen von Märchen, Sagen, Kinderbüchern gern ein bisschen was übersprang, sei es, weil sie die Geschichten schon hundertmal hatte vorlesen müssen, sei es, weil sie müde war, woraufhin ich, dem die Texte ja nur allzu bekannt waren, immer gesagt haben soll: „Das stimmt nicht, da fehlt etwas!“
Mein Großmutter, eine ausgebildete Erzieherin (und später Hausfrau und Mutter, auch ihrer beiden Stiefsöhne), war das, was man eine einfache Frau nennt. Sie war zurückhaltend, ruhig, bescheiden, still, unauffällig, herzensgut und arm. Als sie starb, hinterließ sie nicht viel, schon gar nichts Wertvolles. Ich „erbte“ zwei Sachen, die sie immer in ihrem Nachtkästchen aufbewahrt hatte: eine Dose mit lauter einzelnen Knöpfen in unzähligen Formen und Farben und ein dickes, kleines, mit einer Messingschließe versehenes Buch mit starrem Einband, darauf ein Kruzifix, wohl eher aus aus Zellophan denn aus Bein, gar Elfenbein. Mit beidem, der Kopfsammlung und dem Gebetbuch, hatte ich ab und zu spielen dürfen. Gelesen hatte ich in dem Büchlein allerdings nie, ich lernte ja erst Lesen, als Omi schon tot war.
Lange Jahre bewahrte ich das Gebetbuch auf, vergaß es wohl fast, und erst als Jugendlicher, wohl mehr als zehn Jahre nach Omis Tod, fiel es mir wieder in die Hände und ich schlug es auf. Zu meinem großen Erstaunen war es auf Tschechisch verfasst!
„Deine Großmutter konnte noch Tschechisch, ihre Eltern waren ja Tschechen“, sagte meine Mutter ungerührt, als ich ihr von meiner Entdeckung berichtete. Ich war verblüfft. Ich hatte gewusst, dass die Mutter meiner Mutter in Wien geboren war. Nun erfuhr ich, dass ihre Eltern aus Mähren stammten, bei der Eisenbahn gearbeitet hatten („Eisenbahnerböhmen“ nannte und nennt man diese tschechischen Arbeitsmigranten in Wien; es gab zum Beispiel auch „Ziegelböhmen“, die in den Ziegeleien am Wienerberg schufteten). Meine Mutter konnte sich auch noch an den Vornamen ihres Großvaters und den Mädchennamen ihrer Großmutter erinnern.
Die Nachricht, dass meine geliebte Omi Tschechisch gekonnt hatte, überraschte mich nicht nur, sie erschütterte mich. Wie gesagt, von ihr war ich in die Welt der gestalteten Sprache eingeführt worden, Märchen, Sagen, Kindergeschichten, Lieder und Gedichte hatte ich von ihr und durch sie gelernt. Aber kein tschechisches Wort war ihr dabei je über die Lippen gekommen, kein Abzählreim, keine Liedzeile, nichts. Wie konnte das sein?
Ich weiß nicht, warum es so war, aber ich kann es mir denken. Tschechisch galt einst in Wien (und ganz Deutsch-Österreich) als unerwünscht, nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg oder in der Nazi-Zeit. In der Reichshaupt- und Residenzstadt gab es eine große tschechische Minderheit, aus Böhmen, Mähren und Schlesien zugewanderte Handwerker, Arbeiter und Dienstboten (darunter die berühmte „böhmischen Köchinnen“, die die „Wiener Küche“ geschaffen haben). Im Laufe der Jahre kam es für einige zum sozialen Aufstieg, sogar ein Tschechisches Gymnasium gab es in Wien, und so wie die Deutsch-Böhmen betrachteten auch die die Deutsch-Wiener ihre tschechischen Mitbürger als Konkurrenz und entwickelten eine bizarre Feindseligkeit. Unter dem heute fast nur noch für seinen strategischen Antisemitismus bekannten Bürgermeister Lueger mussten Tschechen und Tschechinnen, wenn sie das Wiener Bürgerrecht erwerben wollten, einen Eid ablegen, dass sie hinfort ihre Muttersprache nicht mehr gebrauchen, sondern nur noch Deutsch reden würden!
Es gab also gute Gründe, warum meine Großmutter, die den Untergang der Monarchie, die aufgewühlte Zwischenkriegszeit und die Nazizeit (in der sie in Thüringen in einem Kinderheim arbeitete, ihre kleine Tochter, meine Mutter, bei einer fürsorglichen Bauernfamilie zurücklassend, wo sie wie ein eigenes Kind aufwuchs) überstanden hatte, ihre Muttersprache „vergaß“, also lieber dauerhaft für sich behielt und nicht mehr verwendete. Mag sein, dass es zwischen 1966 bis 1971, als sie mich aufzog, solche Vorsicht nicht nötig gewesen sein sollte, mag sein, aber sie, dioe mir so viel an Liebe, Zuwendung und durch Vorlesen, Vorsingen, Vorsprechen eben auch sprachlicher Kompetenz schenkte, kam wohl gar nicht auf die Idee, mich auch mit ein paar Wörtern in der Sprache meiner Vorfahren zu beschenken. Das st verständlich, aber traurig.
Ich mache meiner Omi nicht den geringsten Vorwurf. Im Gegenteil, ich sehe sie als Opfer (und in der Folge auch mich). Ein Opfer der in Österreich üblichen Vergangenheitsunterdrückung durch Verleugnung und Vergessen. Ostösterreich war immer schon, seit Römerzeit und Mittelalter und erst recht seit den Zeiten der Vielvölkermonarchie ein Einwanderungsland und ist es bis heute. Das macht auch viel vom Charme dieser Stadt aus, aber offiziell wird davon nichts repräsentiert. Man bleibt unter sich, passt sich an, gibt sich, übertrieben gesagt, auf, Die zweite, dritte Generation verliert schon die Muttersprache, die Kultur, die Bräuche, vielleicht sogar die Religion der Herkunft. Alle reden nur noch „Deitsch“. Zumindest Wienerisch (was sie vom Gegrunze und Geröchel der Westösterreicher unterscheidet).
Aber mir ist das nicht gleicgültig. Ich hätte gern als Fünfjähriger wenigsten auf Tschechisch bis fünf zählen können (wie ich es übrigens seit dreißig zufällig auf Finnisch kann). Oder ein tschechisch Lied im Ohr gehabt haben. Oder …
Es hat nicht sein sollen. Österreich ist eine gewaltige Herkunftsvernichtungsmaschine, geschichtsbesessen, aber auch geschichtenvergessen. Einer der vielen Gründe, warum ich mich hier, wo ich geboren bin und von Geburt an die Staatzsbürgerschaft besitze, ganz im Ernst als Migrant fühle. Also nicht nur wegen meiner krainischen, slawonischen, „krowodischen“, banatdeutschen usw. usf. Vorfahren, sondern auch wegen der böhmischen, mährischen, schlesischen (wie ich inzwischen weiß: auch von der Seite des Vaters meiner Mutter).
Vor einiger Zeit tauchten alte Dokumente wieder auf, die die Erinnerung meiner Mutter an den Mädchennamen ihrer Großmutter bestätigten. und die auch den Mädchennamen von deren Mutter nannten: Pinkas. Hoppla, ein eindeutig hebräischer Nachname! War die Mutter der Mutter der Mutter meiner Mutter jüdischer Abstammung? (Wodurch dann lustigerweise auch ich, halachisch gesehen, sozusagen Jude wäre …) Leider konnte ich dieses Stammbaumrätsel bisher nicht lösen. Auch ein Fall von Erinnerungsabbruch, Dokumentmangel nach zwei großen Krieg und anderen Verwüstungen. Es liegt ja auch nichts daran.
Obwohl ich also, abstammungsmäßig gesprochen, ein mindestens halber Tscheche bin (mit womöglich einem Einsprengsel vom Stamme Levi), kann ich bis heute nicht Tschechisch und war auch nur selten in der Tschechischen Republik. Vielleicht ist es zu spät für mich, mich mit meiner Herkunft zu identifizieren, aber um das angenehme Gefühl der Fremdheit zu haben, reicht es. Und zum Jammern über Verlorenes und Unmöglichgemachtes sowieso ― was wiederum sehr österreichisch ist.
Odpočívej v pokoji, babičko!

Samstag, 24. Februar 2024

Zum 24. und 27. Februar

In westlichen Ländern haben viele die Befürchtung, darunter auch viele Politiker und Gestalter der öffentlichen (und privaten) Meinungen, die Befürchtung, die militärische Unterstützung der Ukraine in ihrer Verteidigung gegen den russischen Angriff könne, wenn sie zu weit gehe oder von der Ukraine zu weireichend verwendet werde, den Westen in den Krieg hineinziehen.
Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben solche Befürchtungen nicht. Sie sind schon seit zehn und erst recht seit zwei Jahren in den Krieg hineingezogen, täglich sterben in der Ukraine Menschen oder werden verwundet, Gebäude und Infrastruktur werden beschädigt oder zerstört. Luftalarm ist „Normalität“ in der Ukraine, ebenso die Angst um Familienmitglieder oder Freunde und Bekannte, zumal die an der Front.
Der Krieg, den der Westen nicht führen will, wird von den Ukrainerinnen und Ukrainern geführt, ob sie wollen oder nicht. Die Alternative wäre Kapitulation. Aber wie es ist, in Russlands Hände zu fallen, könnten die Toten von Butscha und anderswo erzählen.
Man sagt den Ukrainern und Ukrainerinnen, sie sollen dankbar sein, für all die Hilfe, die sie vom Westen bekommen haben. Oh ja, sie sind dankbar, sehr sogar. Sie wären gern noch viel dankbarer für mehr und bessere Hilfe. Damit sie den Krieg, den der Westen, was ihn betrifft, vermeiden will, der aber stattfindet und tatsächlich ein Krieg gegen den Westen ist, besser führen und Menschen das Überleben sichern können.
Russland wird von einem unberechenbaren Irren regiert. Ja, mag sein, dass der diese oder jene Waffenlieferung als Kriegserklärung betrachten will. Soll man also vorsichtig sein, damit Russland geschont wird und nur Ukrainer sterben in einem mörderischen Abnutzungskrieg, aber niemand im Westen?
Ja, mag sein, das der Kremlzwerg es als „Angriff“ bezeichnen würde, wenn die Ukraine, was völkerrechtlich zulässig wäre und moralisch sowieso, im Zuge ihrer Verteidigung auch russländisches Territorium beschösse. Schon jetzt spuckt der Irre ja Gift und Galle, wenn eines seiner Kriegsschiffe oder seine schöne Brücke explodiert, erklärt sofort das Opfer Ukraine zum Aggressor und droht mit dem Einsatz von Atomwaffen (oder lässt drohen).
Na und? Die irrationalen Zuckungen des Diktators können doch nicht das Kriterium für westliche Strategie sein. De Gefahr, dass Putin auf den roten Knopf drückt, besteht jederzeit. Je früher man ihm zeigt, dass man sich von ihm nichts gefallen lässt, desto besser. Aber man hat ja im Westen auch acht Jahre gebraucht, von der Besetzung der Krim und des Donbass bis zum Beginn der „Spezialoperation“ vor zwei Jahren, um die „Ukraine-Krise“ endlich als russischen Angriffskrieg zu verstehen …
Was sind all die Sonntagsreden von der Solidarität mit der Ukraine wert, wenn immer noch nicht alles getan wird, um den gewaltsamen Tod von Ukrainerinnen und Ukrainern in diesem Krieg zu vermeiden? Durch möglichst geeignete Waffen und Ausrüstungen und möglichst viel davon.
Was die Ukraine bisher geleistet hat, grenzt an ein Wunder. Was der Westen, nicht zu Stande bringt, ist beschämend. Das mächtigste Militärbündnis der Welt, die NATO, und dazu noch alle wohlmeinenden Regierungen auf fünf Kontinenten waren nicht in der Lage, das Leben auch nur eines einzigen Menschen zu retten: Nawalny wurde allen Reden und „Sanktionen“ zum Trotz ermordet, wie so viele vor ihm und vermutlich noch viele nach ihm. Nun ist das offizielle Bedauern groß und es wird viel „gedacht“ und „gemahnt“. Was bringt’s?
Putin und die Seinen sind mit Worten nicht zu stoppen. Ihrer Gewalt muss Gewalt entgegengesetzt werden. Es sei denn, man akzeptiert die Herrschaft des Bösen. Dann sollte aber bitte auch das Geschwätz von den „westlichen Werten“ aufhören.
Der Westen ist schon im Krieg, so sehr er es auch leugnet und so sehr er es auch lieber anders hätte. Die Ukrainer hätten es auch lieber anders, die lebten auch lieber im Frieden. Man kann sich nur leider die Realität nicht aussuchen, in der man lebt und stirbt, aber man kann sie womöglich gestalten. Zu gestalten versuchen. Wenn man die Mittel dazu hat oder sich verschaffen kann. Untätigkeit aus Angst spielt jedenfalls dem Gegner in die Hände. Denn zu Tode gefürchtet ist letztlich auch gestorben.

Dienstag, 20. Februar 2024

Glosse CXXXI

Nach Auskunft des Deutsche Gesellschaft für Mykologie e. V. (...) Nach Auskunft der Grammatik ist die Gesellschaft weiblich. Nach Auskunft des Vereinsrecht ist der Namenszusatz eingetragener Verein, abgekürzt „e. V., nur ein Hinweis darauf, dass die Gesellschaft ins Vereinsregister eingetragen ist. Und macht aus ihr kein FTM.

Montag, 19. Februar 2024

Glosse CXXX

Aus Solidarität wollen sich ein Teil der Mitarbeiter anderer Fluggesellschaften dem Streik anschließen. Aber anscheinend will das nicht alle.

Samstag, 17. Februar 2024

Wir denken nicht, uns gibt es nicht

„Wie kann ein Philosoph, der im Jahr 1724 geboren wurde, unser Denken heute maßgeblich beeinflussen?“ Ich verstehe die Frage nicht. Was hat das Geburtsjahr eines Philosophen mit seinem Einfluss zu tun? Muss einer denn in etwa in unserem Alter sein, um uns und unsere Lage verstehen zu können? Weil wir so besonders sind?
Wer sind überhaupt wir? Und was soll „unser Denken sein“? Haben „wir“ alle ein denken, denken wir alle auf dieselbe Weise, kommt bei uns beim Denken immer dasselbe heraus?
Ich weiß schon, dass die Neigung, das Derzeitige über alles Frühere zu stellen, bestimmend ist. Dass die Angewohnheit, Menschen in Generationen und Epochen einzuteilen und gegen einander abzuschließen, heutzutage vorherrscht. Und dass diffuse Kollektive regelmäßig durch die unübersichtliche Vorstellungswelt nicht erst meiner Zeitgenossen geistern.
Aber einem halbwegs klar denkenden, halbwegs gebildeten Menschen kann doch nicht verborgen geblieben sein, dass zu keiner Zeit alle Menschen (nicht einmal die einer Gesellschaft) alle dasselbe auf dieselbe Weise dachten und dass Philosophie ein unabschließbarer Prozess ist, in dem es Moden und Konjunkturen geben mag, indem aber ein Autor oder, richtiger, seine Texte, wenn sie je etwas zu sagen hatten, immer und so auch „heute“ noch etwas zu sagen haben, dass aber das Urteil darüber, ob dem so ist und worin das Gesagte besteht und was es wem bedeutet, immer nur Teil besagten Prozesses sein kann, also ein im Wesentlichen unabschließbares Unternehmen, bei dem das Frühere sich schwerlich als endgültig erledigt und das Aktuelle sich schon morgen als überholt erweisen kann.
Nur wo eigentlich gar nicht mehr gedacht, sondern Philosophie nur noch simuliert wird, wo Philosophaster kommerziell orientierte Spektakel anbieten, gibt es so etwas wie ein „Wir denken“ und ein „Uns beeinflusst“. Gewiss, man kann Archäologie der Gegenwart betreiben, um herauszufinden, warum die, die heute denken, so denken, wie sie denken, und aufzeigen, dass sie auch anders denken könnten, weil ja auch früher schon anders gedacht wurde. Aber dabei darf man analytische Konstruktionen nicht zu überzeitlichen Popanzen aufblasen und sollte stets gewärtig sein, dass heute schon morgen gestern sein wird.
Wenn einer zu seiner Zeit so und so gedacht hat, weil das zu den Bedingungen seiner Zeit passte, dann ist dieses Denken, sofern die Bedingungen gleich oder ähnlich geblieben sind, im selben Maße immer noch zeitgenössisch. Ob das gut oder schlecht ist, ist eine andere Frage. Wer 1724 geboren wurde, mag eine mit dem Kapitalismus seiner Zeit kompatible Philosophie vorgelegt haben. Da der Kapitalismus immer noch besteht, sich im Wandel gleich bleibend und sein Prinzip ― Profit über alles ― stets bewahrend und durchsetzend, wird besagte Philosophie, zumal wenn das damals bloß Zeitbedingte ins heute bloß Zeitbedingte übersetzt wird, noch mehr oder minder passend sein. Wenn einer aber 1724 geboren worden war und sich zum entschiedenen Gegner von profitwirtschaftlicher Ausbeutung, Zerstörung und Verdummung ausgebildet hatte, wird er schon damals erfolglos und unbekannt gewesen sein und seine Schriften, so noch zugänglich, werden auch heute nur die beeinflussen können, die seine Gegnerschaft teilen wollen.
Wir denken nicht. Uns gibt es gar nicht. Die Leute werden zu allen Zeiten von dem beeinflusst, was sie für ihre Zeit halten, wie auch von dem, was weit über ihre Zeit hinausgeht. Darüber kann man mal nachdenken. Aber darüber nachzudenken, ob „ein Philosoph, der im Jahr 1724 geboren wurde, unser Denken heute maßgeblich beeinflussen“ kann, ist völlig sinnlos.